Systembiologie: wie wir uns gesund rechnen

Die Wissenschaft von der mathematischen Modellierung biologischer Prozesse entwirft derzeit die Vision der Präzisionsgesundheit. Digitale Zwillinge werden unsere Gesundheit begleiten, Krankheiten werden selten, die Medizin wird ganzheitlich und menschlicher.

„Präzisionsgesundheit und -medizin erreichen derzeit eine neue Ära“ (Michael Snyder et al.)

„Präzisionsgesundheit und -medizin erreichen derzeit eine neue Ära“, schreiben die Autorinnen und Autoren um den US-amerikanischen Genetiker Michael Snyder in einer viel beachteten Studie aus dem Jahr 2019. Über acht Jahre hinweg hatte medizinisches Fachpersonal aus Kalifornien eine Gruppe von 109 Menschen mit einem erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes regelmäßig untersucht. Viermal jährlich erfassten sie den Lebensstil und die Verfassung der Probandinnen und Probanden. Zudem wendeten sie die neuesten biomedizinischen Analyse-Techniken an.

Das mag zwar noch nicht die ausgereifteste systemorientierte Variante der Medizin sein, aber es ist ein ambitionierter Versuch, mit Hilfe von Netzwerkanalysen das heute bereits Machbare bei der systemischen Erfassung und mathematischen Beschreibung der Biologie von Menschen umzusetzen, das sich hinter der neuen Fachrichtung der medizinischen Systembiologie verbirgt. Die Forschenden bezeichnen ihren Ansatz als Präzisionsmedizin. Damit betonen sie, dass ihre Analysen und potenziellen Therapien so genau wie möglich auf die Menschen abgestimmt sind.

Unterstützung der Gesundheit statt Bekämpfung der Krankheit

Die Testpersonen trugen tragbare Sensoren, die deren Herzfrequenz, Aktivität und Schlafverhalten überwachten. Sie gaben regelmäßig Blut-, Stuhl- und Urinproben ab, machten Belastungstests und wurden am Herzen untersucht. Auch die gängigen Früherkennungstests für Krankheiten absolvierten sie immer wieder. Dabei wurden die Proben mit so genannten Omik-Techniken untersucht. Es wurde also erfasst, welche Genvarianten vorlagen (Genomik), welche Gene besonders aktiv waren (Transkriptomik), wie das Immunsystem arbeitete (Immunomik), welche Proteine die Gewebe erzeugten (Proteomik), wie die Zusammensetzung der Mikroben im Darm war (Mikrobiomik) und in welchem Zustand sich der Stoffwechsel der Menschen befand (Metabolomik). Gleichzeitig setzten sie Computerprogramme zur Auswertung der Daten ein.

Und wozu das Ganze? Snyder und  Mitforschende sind überzeugt, ihr Ansatz habe „das Potenzial zur Unterstützung der Gesundheit“. Wohl gemerkt: Hier geht es um die „Unterstützung der Gesundheit“, nicht mehr um die Bekämpfung von Krankheit. Das ist natürlich ein hoch gestecktes Ziel. Es ist anders als es klingt aber nicht esoterisch, sondern wissenschaftlich fundiert. Die bislang erreichten Ergebnisse sind daran gemessen zwar eher gering. Aber darum geht es in dieser und in einigen bisher veröffentlichten vergleichbaren Studien nur zum Teil. Man möchte vor allem zeigen, wie eine systembiologische Gesundheitsbegleitung aussehen könnte.

Dass durchaus schon eine Menge möglich ist, zeigt eine Studie von Forschenden um Eran Segal vom Weizmann Institute of Science in Rehovot, Israel. 800 Personen trugen eine Woche lang Messgeräte, die ununterbrochen den Blutzuckerspiegel erfassten. Die Forschenden werteten schließlich die individuelle Reaktion des menschlichen Stoffwechsels auf 46 998 Mahlzeiten und Snacks aus.

Die erste Überraschung: Die Reaktion war hochindividuell. Jeder Mensch spricht auf jede Art von Speise oder Getränk anders an. „Universelle Ernährungsempfehlungen haben womöglich einen begrenzten Nutzen“, schreibt das Team.

Die Künstliche Intelligenz (KI) ist genauso gut wie eine menschliche Ernährungsberatung

Die zweite Überraschung: Die Israelis sammelten neben den Blutzuckerwerten auch noch Angaben zum Ernährungsverhalten, der körperlichen Aktivität, der allgemeinen Verfassung sowie dem Mikrobiom der Testpersonen. Mit all diesen Daten fütterten sie eine KI. Diese fand verborgene Muster in den großen, diffusen Datenmengen und spuckte einen Algorithmus aus, der erstaunlich gut abschätzen konnte, wie die Teilnehmenden auf eine bestimmte Art der Ernährung reagieren würden.

Verließen sie sich wie früher nur auf die Angaben zu Kalorien oder Kohlenhydraten auf der Lebensmittelpackung, war die Vorhersagekraft für den späteren Blutzuckeranstieg nur etwa halb so gut wie bei dem neuen Algorithmus. Die Beziehung der Daten zueinander stieg von etwa 0,35 auf rund 0,7.

Zur Bestätigung des Modells zeigte das Forscherteam, dass der neue Algorithmus bei hundert weiteren Testpersonen, deren Biologie, Lebensstil und Ernährung dem Team unbekannt war, genauso gut rechnete. Und schließlich belegten Segal und  sein Team auch noch, dass Menschen, die sich nach den Vorgaben des Computers ernährten, genauso deutlich von den Empfehlungen profitierten, wie eine Vergleichsgruppe, die ihre Ratschläge einer menschlichen Ernährungsberatung verdankte.

Die Blutzuckerschwankungen verringerten sich um das Zweieinhalbfache. Dabei wusste übrigens niemand, wer die Ratschläge des Computers und wer jene eines Menschen erhielt. Zu Guter Letzt veränderte sich allmählich sogar die Zusammensetzung der Darmflora der Testpersonen in eine gewünschte Richtung.

Die Umwelt verändern – für unsere Gesundheit

Eine weitere Erfolgsgeschichte der Systembiologie ist die so genannte AIR Louisville Studie. In der Stadt im US-amerikanischen Bundesstaat Kentucky besitzen 1147 Testpersonen, die an Asthma oder der Lungenkrankheit COPD leiden, einen speziellen Notfallspray-Inhalator. Dieses Gerät misst per GPS-Empfänger seine Position und sendet sobald es wegen einer Atemnot-Attacke benutzt wurde, Angaben über die Uhrzeit und den Ort an einen Großrechner.

Dank der so ermittelten 1,2 Millionen Datenpunkten konnten Systembiologinnen und Systembiologen kalkulieren, wann und wo das Asthma-Risiko in Louisville am höchsten ist und welche äußeren Faktoren dazu beitragen. Daraus leiteten sie verschiedene Maßnahmen ab, um die Umwelt der Menschen für deren Gesundheit zu verändern. So sperrten sie einzelne Durchgangsstraßen für den LKW-Verkehr und pflanzten zahlreiche neue Bäume, damit sich die Luftqualität verbesserte. Das überzeugende Resultat: Die Inhalatoren kamen 78 Prozent seltener zum Einsatz, und die  Betroffenen erlebten fast doppelt so viele Tage ohne Asthma-Symptome wie früher.

Trotz derart positiver Ergebnisse, bleibt die berechtigte Skepsis vieler Menschen vor dem Datenhunger der Systembiologie. Was geschieht mit der steigenden Zahl von irgendwo im riesigen Internet oder auf unbekannten Datenservern gespeicherten Gesundheitsdaten? Zu leicht könnten die sensiblen Informationen missbraucht werden.

Außerdem lässt sich wohl kaum jemand gerne vom Computer vorschreiben, was er oder sie tun oder lassen soll? Damit die Systembiologie wirklich eine Erfolgsgeschichte werden kann, sollte die Gesellschaft schon heute damit beginnen, solche Fragen zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen.

Daten schützen und gezielt einsetzen

Erste positive Ansätze existieren bereits, wie etwa die Schweizer Genossenschaft MIDATA. Die Nonprofit-Organisation betreibt seit 2015 eine möglichst sichere Datenplattform und verwaltet die Gesundheitsinformationen treuhänderisch für ihre Datenspender.

 Diejenigen, die die Plattform nutzen, stellen dieser ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung und haben immer das letzte Wort, was mit den Informationen geschehen soll. Denn MIDATA garantiert laut Satzung „die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger über die Verwendung ihrer Daten“. Eines Tages sollen diejenigen,  die Daten spenden, sogar mitentscheiden dürfen, welche Fragestellungen die Wissenschaft mit Hilfe ihrer Informationen beantwortet.

Längst ist klar: Der technische und der wissenschaftliche Fortschritt werden nicht aufzuhalten sein. Die entscheidende Frage, die sich angesichts der Systembiologie also stellt, ist nicht etwa, ob sie unser Leben eines Tages verändert, sondern: Was können wir schon heute dafür tun, dass es für uns alle eine Erfolgsgeschichte wird?

 

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Peter Spork

Dieser Beitrag erschien in einer ausführlicheren Fassung zuerst am 29. März 2021 im Themenmagazin Erbe&Umwelt  bei RiffReporter.