Warum ist Gesundheit kein Zufall?

Sie ist kein Zustand. Auch nicht das Gegenteil von Krankheit. Gesundheit ist ein generationenübergreifender Prozess, den wir umso mehr benötigen, je kränker wir sind.

Ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit? Ist sie vielleicht sogar „ein Zustand kompletten körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens“, wie es die Weltgesundheitsorganisation, WHO, definiert? Viele stimmen diesen Gesundheitsbegriffen spontan zu. Doch sind sie wirklich zu Ende gedacht? Möchten wir all jenen, die eine genetische Krankheit geerbt haben, die alt und siech sind oder an chronischen Beschwerden leiden, ihre Gesundheit absprechen? Ist Gesundheit tatsächlich ein nahezu unerreichbares Ziel, für das wir unentwegt Opfer bringen und uns den Zwängen von Medizinchecks und Ratgeberliteratur unterwerfen müssen? Ist Gesundheit wirklich ausgrenzend, einengend, destruktiv?

Natürlich nicht. Zum Beispiel können wir sehr wohl gleichzeitig gesund und krank sein, denn Gesundheit und Krankheit sind keine Gegensätze. Unsere Gesundheit ist gerade dann gefordert, wenn wir krank sind, etwa indem sie uns dabei hilft, eine Infektion zu überwinden, einen Knochenbruch verheilen zu lassen oder eine chronische Krankheit zu ertragen.

Gesundheit ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem sich die Zellen unseres Körpers auf ihre Umwelt einstellen und sich im Zusammenspiel mit wechselnden äußeren Herausforderungen verändern. Oder, um es mit den Worten des französischen Arztes und Philosophen Georges Canguilhem auszudrücken: „Gesundheit ist die Fähigkeit, sich anzupassen.“

Die ununterbrochene Anpassung des Stoffwechsels sowie des Nerven- und Immunsystems an die Widrigkeiten und Wohltaten des Alltags, verändert uns in jeder Minute unseres Lebens. Die moderne Molekularbiologie kann seit wenigen Jahren sogar messen, was dabei in den winzig kleinen Kernen unserer 30 Billionen Körperzellen passiert: Dort verändert sich das Erbgut, das die rund 23.000 Bauanleitungen enthält für all die Biomoleküle, die unser Körper erzeugt, um zu leben.

Der Text der Gene – also die eigentlichen Baupläne – bleibt zwar unangetastet. Aber biochemische Strukturen an und neben den Genen werden umgebaut. Sie entscheiden darüber, welche Abschnitte ihres Erbguts eine Zelle benutzen kann und welche nicht. Wie Schalter oder Dimmer regeln diese Strukturen die Aktivierbarkeit der Gene und versetzen die Zellen in unterschiedliche Programme. Solche Erkenntnisse verdanken wir der neuen Wissenschaft der Epigenetik, was man am besten als Zusatz- oder Nebengenetik übersetzt.

Die Muskelzelle eines Sportlers reguliert ihre Gene beispielsweise völlig anders als jene des Stubenhockers. Und die auf Stress reagierenden Zellen eines Menschen, der in frühester Kindheit vernachlässigt wurde und wiederholt schwere Gewalterfahrungen machen musste, arbeiten anders als bei jemandem, der von klein an stabile Bindungen zu liebevollen Bezugspersonen aufbauen durfte und in Geborgenheit groß wurde. Anders als eine genetische Mutation sind die dafür verantwortlichen epigenetischen Veränderungen theoretisch immer umkehrbar. Sie sind eine Art Prägung, kein Schicksal. Darin steckt eine große Chance.

Im Zuge von Wachstum und Entwicklung bestimmt die Epigenetik der Zelle zunächst darüber, ob sie zum Beispiel eine Haut-, Nerven- oder Muskelzelle wird. Doch die biologische Entwicklung hört mit dem Erwachsensein nicht auf. Der Organismus wandelt sich weiter bis ins hohe Alter – permanent neu angeregt durch den Lebensstil und andere Einflüsse aus der Umwelt. Und so haben wir es ein Stück weit selbst in der Hand, wie sich die Zellen unserer Gewebe programmieren.

Indem wir uns ausgewogen und nicht zu kalorienreich ernähren, nicht rauchen oder übermäßig Alkohol trinken, regelmäßig bewegen, soziale Kontakte pflegen, ausreichend schlafen und gerade in Belastungssituationen auf Entspannungsphasen achten, verringern wir das Risiko für praktisch alle komplexen und häufigen Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Adipositas, Herz-Kreislauf-Leiden, Allergien, Rheuma, psychische Krankheiten aller Art, aber auch Altersleiden wie die Alzheimer`sche Krankheit oder viele Arten von Krebs.

Mit komplexen Krankheiten sind dabei alle Leiden gemeint, die auf eine große Zahl unterschiedlichster Einflussfaktoren zurückgehen. Ob eine solche Krankheit eines Tages auftritt oder nicht, kann sehr oft Produkt reinen Zufalls sein. Die Wahrscheinlichkeit aber, mit der dieses zufällige Ereignis geschieht, ist beeinflussbar. Es ist eine Frage der Gesundheit.

Aus dem gleichen Grund sind auch die uralten Diskussionen überflüssig, welchen Teil unserer Persönlichkeit und Gesundheit wir dem genetischen Erbe der Eltern verdanken, und welchen ihrer Erziehung und dem Lebensstil. Ist es das Erbe oder die Umwelt, was maßgeblich unsere Intelligenz, unsere Neigung zu Übergewicht oder zu Depressionen verantwortet? Noch immer denken viele Menschen, alle unsere Merkmale verhielten sich wie Erbkrankheiten oder simple äußere Kennzeichen wie Augen- oder Haarfarbe. Solche Eigenschaften sind mehr oder weniger direkt auf Varianten einzelner oder einiger weniger Gene zurückzuführen. Doch die allermeisten menschlichen Eigenschaften sind anders. Bei ihnen versagt der Versuch einer eindimensionalen Ursachen-Aufteilung in Erbe oder Umwelt.

Im Frühjahr 2016 sorgte die Studie eines internationalen Forscherkonsortiums für Aufsehen, weil sie neu entdeckte Genvarianten präsentierte, die das subjektive Wohlbefinden beeinflussen. Fast 300 000 Menschen hatten Daten zu ihren Genen und ihrer psychischen Verfassung zur Verfügung gestellt. Rund 150 Forscher hatten die Daten in mühevoller Kleinarbeit daraufhin analysiert, ob überhaupt irgendein Zusammenhang zwischen Genvarianten und derart komplexen Merkmalen besteht. Am Ende spürten die Wissenschaftler drei Veränderungen des DNA-Codes auf, die unser Wohlbefinden mitbestimmen.

Aber wozu das Ganze? Drei der beteiligten Genetiker erklärten in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die neu gefundenen Gen-Effekte seien „nur für einen Bruchteil der Erblichkeit von psychologischem Wohlbefinden verantwortlich“. Die Genvarianten erklärten „weniger als ein Prozent der Unterschiede im Wohlbefinden in der Bevölkerung“. Die untersuchten Merkmale seien einfach viel zu komplex, zu viele Gene seien daran beteiligt, zu viele Umweltfaktoren wirkten darauf ein, um einzelnen Genvarianten deutliche Auswirkungen zuschreiben zu können. Letztlich sind die Ergebnisse der Studie vor allem für die Grundlagenforschung interessant.

Ähnliche Resultate ergeben sich, wenn Forscher Phänomene wie Lebenserwartung und Intelligenz, die Neigung zu Altersdiabetes oder Persönlichkeitsstörungen analysieren. Viel entscheidender als der Text einzelner Gene ist dabei die Regulation des gesamten Netzwerks aus sehr vielen sich gegenseitig in ihrer Aktivität beeinflussenden Genen. Und diese Regulation wird nicht nur durch die gegenwärtige Umwelt, durch unseren Lebensstil und andere soziale Einflüsse verändert. Sie wurde vor allem auch in unserer Vergangenheit geprägt.

Die wichtigste Botschaft der aktuellen Molekularbiologie lautet also: Unsere komplexen Eigenschaften entstehen immer aus Erbe, Umwelt und Vergangenheit zugleich: Einflüsse aus der Gegenwart, die Prägung aus der Vergangenheit und genetisch gespeicherte Programme machen erst im Zuge des Lebens das aus uns, was wir sind.

Aus all diesen Erkenntnissen folgt letztlich sogar eine neue Biologie der Vererbung. Denn es wird immer klarer, dass wir in der Lage sind, unsere im Laufe des Lebens erworbenen Umweltanpassungen und damit auch unsere Gesundheit und Persönlichkeit ein Stück weit zu vererben – völlig unabhängig von den Genen. Das geschieht zum einen während der wichtigen Phase der perinatalen Prägung. In dieser Zeit, die im Mutterleib beginnt und mit etwa einem Lebensjahr endet, bestimmen die Eltern über Umwelt und Lebensstil ihrer Kinder.

Darüber hinaus gibt es immer mehr Hinweise, dass epigenetische Strukturen auch über die Keimbahn, also über Ei- und Samenzellen, weitergegeben werden und den heranwachsenden Keim beeinflussen. Damit vererben wir also nicht nur die Gene sondern auch um-weltabhängige Informationen darüber, wie wir diese Gene regulieren sollen. Eine Sensation!

Vieles spricht also dafür, dass unsere Gesundheit nicht nur das Produkt des eigenen Lebens ist. Sie scheint zusätzlich durch das Leben der Eltern und Großeltern beeinflusst zu sein. Gesundheit ist ein generationenüberschreitendes Projekt. Das heißt allerdings auch, dass eine moderne Präventionspolitik vor allem werdende und gewordene Eltern unterstützen und entlasten sowie deren Kindern helfen sollte. Außerdem gilt es, Armut und soziale Ungleichheit besser zu bekämpfen.

Denn Krankheitsvorsorge für die Gesellschaft von Morgen beginnt in der Kindheit der zukünftigen Eltern und Großeltern. Letztlich geht es darum, möglichst vielen Menschen möglichst gute Chancen auf eine freie und normale biologische Entwicklung zu sichern. Die Gesundheit ist Produkt dieser Entwicklung. Gesundheit ist alles andere als zufällig.

Peter Spork

 

Dieser Beitrag ist zuerst bei RiffReporter im Projekt Erbe&Umwelt erschienen: www.riffreporter.de/erbe-umwelt-peter-spork/